Eine Geschichte der „Zerrissenheit“

Die ungarische reformierte Gemeinschaft ist Ost-Mittel Europas größte genuine evangelische Kirche, das „östlichste Stück des protestantischen Westen“. Durch die Jahrhunderte war sie mit der nationalen Freiheitsbewegungen und der Geschichte des Landes in vielen Hinsichten verbunden. Eine Gemeinschaft mit Rissen: es gab kaum Zeiten, wo dieser Kirche es gewährt worden wäre, ihrer natürlichen Gemeinschaft und Einheit Ausdruck zu verleihen. In der Zeit der europäischen Reformation war die zweite, helvetische Welle der Reformbewegung im damaligen ungarischen Königsreich höchst prägend. Das Land war dreigeteilt, beherrscht und teilweise verwüstet von Habsburgern wie von den Osmanen. „Calvinismus“, in Ungarn ein positiver Begriff, überzeugte in dieser Umbruchslandschaft 90% der Bevölkerung bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Seine Vertreter verkündeten nämlich nicht nur eine spirituelle Erneuerung, sondern die Reformation „des ganzen Lebens“. In ständiger politischen Unterdrückung und Rekatholisierung der Gegenreformation verlor die Kirche ihre Mitglieder massiv, so dass wir heute im Karpatenbecken mit etwa 1,5 Millionen aktiven Mitgliedern rechnen. Die Kirche lebte, eng zusammen mit der lutherischen Gemeinschaft, in regionalen Strukturen (sechs Kirchendistrikte). Erst ab dem Zeitpunkt der nach dem Ausgleich mit Österreich im Jahre 1881einberufene Synode von Debrecen können wir in organisatorischer Hinsicht von einer einheitlichen Kirche sprechen. Der goldene Zeitalter, welcher auch von Erweckung geprägt war, dauerte freilich nicht lange. Nach dem ersten Weltkrieg, infolge des Friedensvertrags zu „Trianon“ (Versailles) in 1920 verlor das Land 2/3 seines Gebietes und seiner Bevölkerung, was auch die Kirche schwer betraf und ihre Gemeinschaft zerriss. In der sozialistischen Diktatur wurden die Nachfolgekirchen in allen Ländern des Karpatenbeckens enteignet, ihre Schulen verstaatlicht und der Religionsunterricht aus den Schulen verbannt. Das äußere und innere Leben der Kirchen wurde in der Region durch die Entscheidungen der Staatspartei geprägt und sie lebten ziemlich isoliert von der Außenwelt. Es ist also nicht verwunderlich, dass mit dieser hektischen und zerrissenen „Laufbahn“ das Geschenk der politischen Freiheit seit 1989 eine riesige strukturelle und geistliche Herausforderung für uns darstellt. Geplagt von der Diktatur des Kommunismus und gedrängt von den Säkularisierungstendenzen der freien Gesellschaft ringt die Kirche seit mehr als zwanzig Jahren um einen Neuangang in Strukturen und Geist, in ihrer Sendung und öffentlichen Verantwortung. Ein langer Weg des Lernens. Auf diesem Weg ist der Eckstand am Kirchentag ein wichtiger Schritt.

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